Rückenschmerzen: eine personalisierte Smartphone-basierte Lösung

Autor
Prof. Walter Karlen
Universität Ulm

Gespräch mit dem Projektleiter des NFP75-Projekts.

Was war das Ziel des Projekts «Rückenschmerzen mit dem Smartphone erkennen und beobachten»?

Ziel dieses Projekts war es, Informatikerinnen und Informatiker, Mobile-Health-Fachleute sowie Anwendungsexpertinnen und -experten aus Industrie, Medizin und Physiotherapie zusammenzubringen, um Schmerzen im unteren Rückenbereich aus datenwissenschaftlicher Sicht zu untersuchen.

Was waren die Ergebnisse?

Wir haben die Smartphone-App «Swiss Health Challenge» entwickelt, mit der anonymisierte Sensordaten für die Forschung gesammelt, übertragen und gespeichert werden können. Die App wurde so konzipiert, dass sie die Nutzerinnen und Nutzern in Form von sogenannten Challenges anspricht. Sie wurde in zwei klinischen Studien eingesetzt, an denen ehemalige Patientinnen und Patienten sowie Risikopersonen für Rückenschmerzen teilnahmen.

Die erste Studie lieferte neue Erkenntnisse über den Einsatz digitaler Hilfsmittel zur Unterstützung der Behandlung. Wir ergänzten die App mit einem Exergame, das interaktive Übungseinheiten bei den Patientinnen und Patienten zu Hause anbot. Der Einsatz dieser Exergaming-Intervention hatte keinen Einfluss auf die Bewegungsmuster, die in regelmässigen Abständen in der Physiotherapieabteilung des Universitätsspitals Zürich untersucht wurden. Dieses Ergebnis bestätigt, dass Personen, die nicht schwer an Rückenschmerzen leiden, schwierig zu überwachen und zu behandeln sind. Die Studie hebt sich jedoch von anderen durch die Verwendung digitaler Hilfsmittel zur objektiven Überwachung der Therapietreue in realen Situationen ab. Ausserdem haben wir neue Erkenntnisse darüber gewonnen, wie Bewegungsangst mit Haltungsschwankungen zusammenhängt.

In der zweiten Studie wurden jugendliche Skifahrer überwacht, um körperliche Belastungen zu ermitteln, die möglicherweise zu Rückenverletzungen führen könnten. Die App wurde verwendet, um das Skitraining mit Höhen- und Bewegungssensoren zu überwachen. Es konnte gezeigt werden, dass dies wertvolle Daten sind, die weitaus detailliertere Informationen über das Bewegungsverhalten liefern können als sogenannte Selbstberichte.

Schlussendlich haben wir auch zahlreiche maschinelle Lernverfahren und technische Beiträge entwickelt, um Herausforderungen bei der Analyse solcher Daten zu meistern. Diese wurden in etablierten Fachzeitschriften für Technik und Informatik sowie auf internationalen Konferenzen beschrieben. Der Quellcode dieser Ansätze ist offen zugänglich ((https://www.uni-ulm.de/in/bmt/daten-tools/)) und kann leicht für andere Gesundheitsanwendungen übernommen werden.

Was sind die Hauptaussagen des Projekts?

  • Technologie kann das Engagement und die Motivation der Betroffenen fördern, aber nicht ersetzen.
    In unseren beiden Studien setzten wir digitale Technologien ein, um mit den Betroffenen in Kontakt zu treten, und versuchten, den Gesamtaufwand für die Erledigung bestimmter Aufgaben zu verringern. Wir haben festgestellt, dass unabhängig von der Technologie die Motivation entscheidend ist, um diese Aufgaben zu bewältigen. Zusätzliche Anleitungen oder unterhaltsamere Interventionen waren keine Erfolgsfaktoren für ein besseres Engagement, wenn die Betroffenen nicht von sich aus motiviert waren. In der randomisierten kontrollierten Studie zur digitalen Intervention mit Exergaming sahen wir zum Beispiel, dass einige Teilnehmende die empfohlenen Übungsmöglichkeiten nicht ausreichend befolgten, was wahrscheinlich zu einer Veränderung der Ergebnisse geführt hätte. In ähnlicher Weise war die Überwachung der Trainingsanstrengungen der jugendlichen Skifahrer davon abhängig, ob sie das Smartphone immer bei sich trugen. Zusätzliche Funktionen und zeitnahe Erinnerungen könnten das Problem der Einhaltung in der realen Welt lösen, erfordern aber ein tiefgreifendes Verständnis der Bedürfnisse und Motivationen der Betroffenen. Daher sehen wir noch einiges an nicht voll ausgeschöpftem Potenzial bei der Förderung der Nutzung sensorbasierter Technologie für Menschen mit Rückenschmerzen.
  • Der Zugang zu Gesundheitsdaten in grösserem Umfang, insbesondere zu prospektiv erhobenen Ergebnisdaten, bleibt eine Herausforderung.
    Derzeit dominieren in der Schweizer Gesundheitslandschaft noch Infrastruktur- und Datensilos. Der Zugang zu Daten ist eine Herausforderung, die nur mit neuen Ansätzen der Datenerfassung und -verwaltung bewältigt werden kann. Aufgrund der grossen Heterogenität der Gesundheitssysteme und -vorschriften steht die Schweiz vor grossen Herausforderungen bei der Zusammenführung verschiedener Datenquellen. Die prospektive Erhebung von Gesundheitsdaten im Rahmen von Studien ist kostspielig, und es müssen viele Ressourcen für die Rekrutierung und die Verwaltung der regulatorischen Prozesse von Studien aufgewendet werden. Wenn die Datenverwaltung und -infrastruktur harmonisiert und die Prozesse vereinheitlicht würden, könnte die direkte Datenerhebung diese Hindernisse überwinden. Das Gesundheitssystem müsste für einen transparenteren Datenfluss und eine offenere Kultur konzipiert werden. Wir haben jedoch die Erfahrung gemacht, dass das Misstrauen gegenüber staatlichen Ansätzen und der Delegation an private Institutionen (z.B. Swiss ID, SwissCovid App etc.) zunimmt. Wir erlebten niedrige Rekrutierungsraten und die Protokolle verursachten einen hohen Aufwand für die Studienteilnehmenden. Daher könnte ein einfacherer Zugang zu Studien mit offenen Plattformen, die Patientinnen und Patienten mit den Forschenden verbinden, den Zugang zu Daten für eine tiefergehende Gesundheitsforschung verbessern.
  • Schmerzen im unteren Rückenbereich sind nach wie vor eine komplexe und schlecht verstandene Krankheit.
    Unsere Forschung konnte nur kleine Aspekte der Rehabilitation und die Rolle digitaler Sensoren und Interventionen zur Unterstützung des Managements von Rückenscherzen beleuchten. Grössere, koordinierte Initiativen werden benötigt, um weitere Informationen aus anderen Bereichen wie Genetik, Epidemiologie und muskuloskelettale Rehabilitation zu kombinieren.

Welche Implikationen sehen Sie?

Die Ergebnisse der randomisierten kontrollierten Studie zur Therapietreue machen deutlich, dass es dringend notwendig ist, diese zu verbessern. Wenn die Betroffenen nicht an einer Intervention festhalten, bis ein möglicher Nutzen erkennbar ist, kann die Optimierung der Übungen selbst wenig hilfreich sein. Daher sollten die Förderung der Befolgung der Therapie, die Benutzerfreundlichkeit und die Beseitigung von Hindernissen für den Zugang zur Intervention Priorität haben.

Digitale Tools bieten einzigartige Möglichkeiten für die Integration von Funktionen wie automatische Erinnerungen, Terminplanungsoptionen oder den Aufbau anderer Strukturen, die zur Förderung der Nutzung von Interventionen eingesetzt werden können. In unserer randomisierten kontrollierten Studie wurde der «Aufwand» häufig als Grund für einen Abbruch genannt. Dieser «Aufwand» muss immer in Relation zu einem wahrgenommenen Nutzen gesehen werden. Daher ist es wichtig, dass der Charakter der Intervention und der potenzielle klinische Wert der verwendeten Instrumente hervorgehoben und klar kommuniziert werden, während der Zugang, die Benutzerfreundlichkeit und die Motivation durch verschiedene Merkmale verbessert werden.

Das Hervorheben des Grundprinzips und des Zwecks der Verbesserung der Rückenschmerzen kann von zentraler Bedeutung für die Förderung der Therapietreue sein, insbesondere bei Interventionen, die als Spiel präsentiert werden. Die Grundlage für eine solche Kommunikation könnte durch Studien unter eng definierten, optimalen Bedingungen geschaffen werden. Die so erzielten Ergebnisse könnten dann als Grundlage dienen, um die Akzeptanz und Motivation auch unter realistischeren, angewandten Bedingungen im Feld zu erhöhen.

Welche Empfehlungen habt ihr?

Eine krankheitsspezifische Datenerhebung in der ganzen Bevölkerung bleibt in der Schweiz eine Herausforderung. Die traditionelle Sichtweise eines «Studienzentrums», das an ein Spital oder einen Kanton gebunden ist, ist für die Big-Data-Forschung in der Medizin nicht mehr geeignet. Nur wenn alle medizinischen Zentren in der Schweiz ihre Datendrehscheiben kollaborativ und offen miteinander verbinden können, sind aussagekräftige Datenmengen möglich, die echte Einblicke in komplexe Krankheitsstrukturen erlauben. Es besteht ein dringender Druck, dies auf übergeordneter Ebene zu erreichen, da die einzelnen Zentren nicht in der Lage sind, mit den dominierenden kommerziellen «Datensammlern» (Big 5) zu konkurrieren. Eine Klärung der rechtlichen Rahmenbedingungen wie digitale Unterschriften und Einverständniserklärungen für die medizinische Forschung sowie besser informierte Regulierungsstellen wie Ethikkommissionen werden ebenfalls erforderlich sein.

Zum Projektteam

Das multidisziplinäre Forschungsteam, das dieses Projekt vorantreibt, wird ergänzt durch Dr. Anita Meinke und Dr. Patrick Schwab von der ETH Zürich, Dr. Jaap Svanenburg und Dr. Rudolf Knols vom Universitätsspital Zürich, PD Dr. Jörg Spörri von der Universitätsklinik Balgrist und Dr. Lars Lünenburger von der Hocoma AG. Prof. Robert Riener, ETH Zürich, leistete gegen Ende des Projekts administrative Unterstützung.

Zum Projekt

Weiterführende Links