Ethisches Rahmenkonzept für Big Data im Gesundheitswesen

Autorin
Prof. Effy (Eftychia) Vayena
ETH Zürich

Gespräch mit der Projektleiterin des NFP75-Projekts.

Was war das Ziel des Projekts BEHALF?

Im Zeitalter der datengesteuerten Medizin können Daten, die zu verschiedenen Zwecken erzeugt werden – die über gesundheitliche Gründe hinausgehen – wertvolle Informationen über die Gesundheit liefern. Die Zusammenführung und Analyse heterogener Daten kann zu präventiven, diagnostischen und therapeutischen Vorteilen führen. Erhebung, Nutzung, Speicherung und Weitergabe von Gesundheitsdaten werfen jedoch eine Reihe von ethischen Dilemmata auf. Wie lässt sich eine informierte Zustimmung in der datengesteuerten biomedizinischen Forschung umsetzen? Wie lassen sich die Privatsphäre der Forschungsteilnehmenden und der Schutz vor Beeinträchtigungen der Würde gewährleisten? Wie lässt sich eine gerechte Verteilung des Nutzens aus der Big-Data-Forschung sicherstellen.

Die Ziele unseres Projekts BEHALF waren

  • Die ethischen und konzeptionellen Fragen von Big Data im Gesundheitswesen und in der biomedizinischen Forschung erfassen.
  • Beurteilen, ob Big-Data-Probleme die Wirksamkeit der bestehenden ethischen Aufsichtsmechanismen beeinflussen. Welche Lücken bestehen in den aktuellen Aufsichtsmechanismen für die Nutzung von Big Data in der Gesundheitsforschung? Besondere Aufmerksamkeit wurde der Überprüfung der Stärken und Schwächen der Ethikkommissionen gewidmet.
  • Ein ethischer Rahmen (bestehend aus politischen Empfehlungen) entwickeln, der die Arbeit der Ethikkommissionen in der Schweiz und im Ausland unterstützen könnte, indem er bestehende Regulierungslücken in der Gesundheitsforschungspraxis mit Big Data behebt.
  • Den ethischen Rahmen in ein konkretes Toolkit umsetzen, das sowohl von Ethikkommissionen als auch von Forschenden genutzt werden kann.

Was waren die Ergebnisse?

Unser Projekt führte zu zahlreichen Erkenntnissen, die in 13 peer-reviewed, frei zugänglichen wissenschaftlichen Publikationen zusammengefasst und veröffentlicht wurden.

Durch das Aufzeichnen der ethischen und konzeptionellen Fragen im Zusammenhang mit der Big-Data-Forschung im biomedizinischen Bereich zeigte unsere Untersuchung, dass sich die Forschungsgemeinschaft in den letzten zehn Jahren zunehmend des Potenzials von Big Data und KI-gestützten Technologien im Bereich Gesundheit und Medizin bewusst geworden ist. Unsere Analyse ergab, dass der Schutz der Privatsphäre das am meisten diskutierte ethische Anliegen ist. Tatsächlich scheinen Forschende sowie Entwicklerinnen und Entwickler von Apps unter der ethischen Nutzung von Big Data vor allem die Einhaltung bestehender Datenschutzbestimmungen zu verstehen und ignorieren andere relevante ethische Fragen (z. B. Rechenschaftspflicht in der Forschung, faire Verteilung von Risiken und Nutzen, individuelle Autonomie und Befähigung sowie Schadensbegrenzung auf Gruppenebene).

Weitere wichtige Erkenntnisse?

Auf der Grundlage unserer konzeptionellen und empirischen Analyse haben wir über die Arten von Reformen nachgedacht, die erforderlich sind, um die ethische Bewertung von Big-Data-Projekten und die ethische Aufsicht über die digitalen Gesundheitsinstrumente, die auf Big Data beruhen, zu verbessern. Wie im ursprünglichen Projektvorschlag vorgesehen, organisierten wir in dieser Forschungsphase einen Workshop mit internationalen Expertinnen und Experten, der darauf abzielte, Feedback von diesen zu den Ergebnissen unserer Analysen zu erhalten sowie Reformen und Governance-Empfehlungen für die Ethikkommissionen zu definieren, die in der Schweiz und im Ausland umgesetzt werden könnten. Das daraus resultierende gemeinsame Papier schlägt vor, die Ethikkommissionen auf verschiedenen Ebenen zu reformieren (d.h. regulatorisch, verfahrenstechnisch, ergänzend), damit sie ihre Rolle als wichtigster Aufsichtsmechanismus in der biomedizinischen Forschung unter Verwendung von Big Data effektiv erfüllen können.

In der letzten Phase haben wir die Empfehlungen für Ethikkommissionen in etwas Konkreteres umgesetzt, ein Ethik-Toolkit. Der erste Teil ist ein Selbstbewertungstool, das den Ethikkommissionen in der Schweiz und im Ausland helfen soll, ihre Bereitschaft zu bewerten und ihre Schwächen im Zusammenhang mit der Big-Data-Forschung zu beheben. Der zweite Teil des Toolkits ist ein ethisches Bewertungsinstrument in Form einer Checkliste. Das Ethik-Toolkit ist online.

Was war ein besonderes Highlight? Was ging über das hinaus, was geplant war?

Anhand des Ethik-Toolkits und der BEHALF-Forschungsergebnisse hat Swissethics (die Dachorganisation der kantonalen Ethikkommissionen) die Vorlagen für die Projekteingabe durch die Forschenden modifiziert und erweitert; insbesondere in Bezug auf Projekte, die eine Weiterverwendung von Daten (mit und ohne Einwilligung) vorsehen. Wir betrachten die Integration unserer Checkliste in die Vorlagen von Swissethics als einen wichtigen Erfolg dieses Projekts. Unsere Arbeit hat die Art und Weise, wie die Ethikkommissionen Big-Data-Forschung beurteilen, konkret verändert und bietet den Forschenden zusätzliche ethische Anleitungen für die Planung und Durchführung ihrer Projekte.

Was sind die Hauptaussagen des Projekts?

  • Privatsphäre und Datenschutz sind zwar äusserst wichtige ethische Fragen in der Big-Data-Forschung, sollten aber nicht als ethisches Allheilmittel betrachtet werden. Vielmehr sollte das Spektrum der ethischen Implikationen dringend angegangen werden, und zwar über die Vorschriften zur Datenkonformität hinaus. Wenn diese ethischen Herausforderungen nicht angegangen werden, könnte dies zu Schäden und Misstrauen sowohl gegenüber den Technologien als auch gegenüber den verantwortlichen Institutionen führen, während ein Erfolg sowohl für den Einzelnen als auch für die Gesellschaft insgesamt Vorteile bringen könnte. Unser Ethik-Toolkit könnte dazu beitragen, die Gesellschaft zu schützen und gleichzeitig eine ethisch ausgerichtete Datennutzung zu gewährleisten.
  • An der Big-Data-Forschung im biomedizinischen Sektor und darüber hinaus sind eine Vielzahl von Akteuren beteiligt, darunter Forschende, Entwicklerinnen und Entwickler, der private Sektor, Berufsverbände, Entscheidungsträgerinnen und Entscheidungsträger sowie die Öffentlichkeit. Diese Akteure haben möglicherweise konkurrierende Interessen und unterschiedliche Erwartungen, wie die Gesellschaft in Zukunft aussehen wird und welche technologischen Instrumente eingesetzt werden sollten. Um diese Einschränkung zu überwinden, ist der Einbezug der Öffentlichkeit von entscheidender Bedeutung für die Orientierung an einem gemeinsamen Wertesystem, das als Grundlage für ethische Beratung und Technologieentwicklung dienen kann.
  • Bestehende Aufsichtsmechanismen für die Nutzung von Big Data in der biomedizinischen Forschung und der Entwicklung von Gesundheitstechnologien müssen auf verschiedenen Ebenen reformiert und gestärkt werden. So sollten beispielsweise die Mitglieder der Ethikkommissionen über angemessene Fachkenntnisse verfügen, um aufkommende technische Herausforderungen zu bewältigen. Ausserdem sollten die Aufsichtssysteme an den technologischen Wandel angepasst werden können, inklusive einer laufenden Überwachung und einer soliden Bewertung des Forschungsprojekts oder der Technologieentwicklung über die anfängliche Risiko-Nutzen-Bewertung hinaus.

Welche Implikationen sehen Sie?

Wie bereits erwähnt, bestand eine wesentliche wissenschaftliche Auswirkung dieses Projekts in der Überarbeitung der Swissethics-Vorlagen für Forschende. Einige Abschnitte wurden erweitert, während andere neu eingeführt wurden, z.B. Abschnitte über Verzerrungen in den Datensätzen, transparente Datenverarbeitung, Strategien zur sicheren Aufbewahrung von Daten, Risiko-Nutzen-Bewertung, wissenschaftliche Validität der Forschung und Verbreitung der Ergebnisse. Die Ergebnisse von BEHALF flossen auch in die Überarbeitung der Checkliste ein, die von den kantonalen Ethikkommissionen verwendet wird, um zu beurteilen, ob ein Forschungsprotokoll ethisch vertretbar ist oder nicht.

Ein Ziel dieses Projekts war es, relevante ethische Fragen im Zusammenhang mit Big Data für das Gesundheitswesen und die biomedizinische Forschung aus einer konzeptionellen und normativen Perspektive zu klären. Unsere Checkliste – das ethische Bewertungstool – kann Forschende bei der Durchführung einer ethisch ausgerichteten Big-Data-Forschung anleiten. Mithilfe unseres Ethik-Tools können sie feststellen, wie gut ihr Projekt die Standards der Ethikkommission erfüllt. So hilft dieses Tool den Forschenden, über ethische Fragen nachzudenken, die in ihrer Forschung auftauchen könnten, und sie anzugehen. Darüber hinaus legt es gemeinsame Praktiken für die Erstellung, Sammlung, Speicherung, Verarbeitung, interne Weitergabe, Analyse, Verbreitung und Wiederverwendung von Daten in der biomedizinischen Forschung fest.

Darüber hinaus könnte die Schaffung von Klarheit über bewährte Praktiken letztlich auch dem privaten Sektor zugute kommen. Forschende sowie Entwicklerinnen und Entwickler können dieses Instrument nutzen, um ethische Probleme zu erkennen, die ihrem Ruf schaden könnten, wenn sie nicht angegangen werden. Darüber hinaus würde die Nutzung dieses Instruments durch den privaten Sektor die Zusammenarbeit mit akademischen Forschungspartnern erleichtern. Das Ökosystem der Gesundheitsdaten weitet sich aus, sodass an der Big-Data-Forschung Partner aus vielen Bereichen beteiligt sein werden. Da in der Öffentlichkeit die Besorgnis über die Nutzung von Big Data wächst, ist es wichtig, dass alle Big-Data-Aktivitäten im Gesundheitsbereich innerhalb eines klaren und ethisch soliden Rahmens stattfinden. Die Verwendung dieses Toolkits kann dazu beitragen, das Vertrauen der Öffentlichkeit in Big-Data-Aktivitäten und damit eine nachhaltigere Unterstützung sicherzustellen.

Welche Empfehlungen habt ihr?

Dieses Projekt zeigt Lücken in der derzeitigen Regulierungs- und Überwachungslandschaft für die Nutzung von Big Data in der Gesundheitsforschung und der digitalen Gesundheit auf. Die folgenden politischen Empfehlungen können dazu beitragen, diese Lücken zu schliessen und die Prozesse zur Regelung der ethischen Datennutzung zu straffen:

  • Überarbeitung und Erweiterung der bestehenden ethischen Standards, die über den Datenschutz und die Wahrung der Privatsphäre hinausgehen
  • Überführung verstreuter und allgemeiner ethischer Leitlinien in umsetzbare und gestraffte Praktiken
  • Festlegung internationaler Mindeststandards für eine ethisch ausgerichtete Datennutzung
  • Einführung regulatorischer, verfahrenstechnischer und ergänzender Reformen zur Stärkung der Rolle der bestehenden Aufsichtsmechanismen und zur Verbesserung des Überprüfungsprozesses

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